Ein Nasenbär aus Berlin

 


Nicht jedes Auto ist schön, nur weil es alt ist. Doch was die Old- und Youngtimer den meisten neuen Modellen voraushaben, das sind ihre Geschichten, die auch Geschichten menschlicher Begegnungen erzählen. Bei Günter Balcke war es so: Sein savannenbeige lackierter Volkswagen 411 L steht als Erinnerung für seine Zeit im Schwimmsport ebenso wie für eine gute Tat zum Wohle aller Beteiligten.


FÜNF SICHERHEITSGURTE GALTEN ALS LUXUS


1988 war es, als der Sport- und Schwimmlehrer Günter Balcke aus Euskirchen sein Herz für den VW 411 entdeckte. "Als ich nach Berlin kam, um einen Rot-Kreuz-Lehrgang zu geben, holte mich eine ältere Dame im schicken, großen Luxuswagen vom Flughafen Tempelhof ab", sagt Balcke. "Sie war 85, das Auto 20." Der VW 411 L gefiel Balcke, heute 72 Jahre alt, sofort. Das L stand für die Luxusausstattung des Coupés: Sechsfach verstellbare Sitzhöhe, dreifach verstellbare Lendenwirbelstütze, fünf Sicherheitsgurte und eine serienmäßige

Standheizung mit Zeitschaltuhr gehörten dazu.


Als der Pädagoge von seiner Gastgeberin Anneliese Selke, einer Beraterin des Deutschen Roten Kreuzes, eine Woche im VW 411 herum chauffiert worden war, freute er sich schon auf den nächsten Berlin-Aufenthalt, um mehr in dem schönen Auto fahren zu können. Doch im Jahr darauf, Balcke kam als Leiter der Bundesschwimmwettbewerbe, fuhr Anneliese Selke kein Auto mehr, und der Wagen stand abgemeldet in der Garage.


"Das Haus brauchte dringend ein neues Dach, und das Heizöl für den Winter konnte sie auch nicht bezahlen", sagt Balcke. Er reagierte schnell. Ehe das Auto noch in schlechte Hände geriet, würde er es gern abnehmen. Doch mit 20 Jahren war der 411 noch kein begehrter Oldtimer, und den Youngtimer-Kult von heute gab es noch nicht. Das Auto war einfach nur ein altes Auto, und mit den paar Mark, die es noch wert war, wären Frau Selkes Probleme

nicht zu lösen gewesen. So verhalf Balcke der Dame mit einem Kredit über 3000 Mark zu einem neuen Dach und einem warmen Winter. Als Kreditzins überließ sie ihm ihren "Nasenbär".


Den Spitznamen erhielt die 1968 vorgestellte Mittelklasselimousine VW 411 wegen ihrer langen Schnauze. Saß der luftgekühlte Boxermotor altbewährt im neu gestalteten Fließheck, mussten Kofferraum, Tank und Reserverad im Vorderwagen Platz finden. Die neue, selbsttragende Karosserie bot mit wahlweise vier Türen und dem verlängerten Radstand großzügigen Raum für die Insassen. Das neuartige Sportfahrwerk stammte aus dem

Porsche 911. Der Motor mit 1,7 Liter Hubraum und 68 PS beschleunigte das Auto auf 145 km/h.


Als Günter Balcke im Sommer 1989, kurz nach dem Abschluss des Kreditgeschäfts, den Wagen nach Euskirchen überführte, war der "Nasenbär" zwar fahrbereit, aber nur optisch in Ordnung. Im Heimatort angekommen, stellte Balcke fest, dass die Grundsubstanz in erbärmlichem Zustand war. Die schlechte Konservierung der Werkstatt trug Schuld daran. "Aus den Hohlräumen förderte ich jede Menge Berliner Tageszeitungen zutage."


1974 STELLTE VW DIE PRODUKTION EIN


Unzählige VW 411 waren bereits nach ihrem ersten Lebensjahrzehnt dem Rost zum Opfer gefallen. Die fehlenden vorderen Innenkotflügel und die von Haus aus schlecht ausgeschäumten Hohlräume boten der Korrosion wunderbare Angriffsflächen. Der Ruf des "Nasenbären" war ohnehin schnell ruiniert: Kupplungsschäden, laute Fahrgeräusche und der hohe Verbrauch von bis zu 18 Litern brachten dem Auto schon kurz nach der Einführung

im Oktober 1968 schlechte Presse und sinkenden Absatz. 1974 stellte VW auch dessen Produktion ein, nachdem insgesamt nur 367 728 Stück vom Band gelaufen waren.


Als Balcke 1990 loszog, um Ersatzteile zu ergattern, wurde er erst in den Niederlanden fündig. "Mit Ersatzteilen allein war es jedoch nicht getan, die hätte ich in langen Sitzungen vor Ort ausbauen müssen", erzählt Balcke. "Also suchte ich gleich ganze Autos und fand drei." 1991 zerlegte Balcke seinen eigenen "Nasenbären". Im Herbst begann er mit der Restaurierung. 1500 Arbeitsstunden, nur die Lackierung im originalen Farbton überließ Balcke einem Fachmann. Seit Ende 1992 ist der Wagen fertig, und Balcke besucht regelmäßig Oldtimer-Veranstaltungen.


Günter Balckes VW 411 L ist eines von 92 noch gemeldeten zweitürigen Coupés. Die viertürige Limousine existiert laut Kraftfahrtbundesamt noch 107 Mal, vom Kombi gibt es 217 Exemplare.



Erschienen in der Berliner Morgenpost

am Samstag, 20. Dezember 2008  - Von Renate Freiling

Mit freundlicher Genehmigung von Günther Balke, Euskirchen
















Jim Pfeffer / pixelio.de